17 Mrz

Stärken und ihre Schattenseiten

Lesezeit ca. 13 Minuten

„Stärken können nur ihr volles Potential entfalten durch Klarheit über ihre Schattenseiten.“

Sind wir einmal ehrlich: Wenn wir nicht gerade vor einem traditionell geführten Bewerbungsgespräch stehen, eine/n Coach oder BeraterIn konsultieren oder einen inneren Drang nach Selbstklärung verspüren, setzen wir uns selten ganz bewusst mit unseren Stärken – also unseren hilfreichen oder „positiv“ bewerteten Eigenschaften und Persönlichkeitsanteilen – auseinander. Meistens entdecken wir unsere Stärken im Laufe unseres Lebens, beispielsweise durch Lob von Dritten, berufliche Tätigkeitsbereiche oder Hobbies: Man merkt irgendwann, dass man vielleicht gut organisieren, netzwerken, analysieren oder strukturiert arbeiten kann, Durchsetzungsvermögen oder Ehrgeiz besitzt. Stattdessen verbringen wir wesentlich mehr Zeit damit, uns auf unsere Mängel und „negativen“ Eigenschaften zu konzentrieren – und nennen diese „Schwächen“. Soweit ist das vollkommen menschlich, denn es soll uns vor bedrohlichen Situationen schützen. Wenn wir unseren Schwächen jedoch zu sehr Gewichtung geben oder sie unstrukturiert zerdenken, können wir mit dieser negativen Sicht auf Eigenschaften unwissentlich unsere Stärken auch richtig „verkorksen“. Immerhin können Stärken ein Treiber für, oder besser die Wurzeln von Schwächen sein, wenn wir in dem Unbewusstsein ihres Zusammenwirkens verharren und uns darauf konzentrieren, unsere Schwächen zu unterdrücken, anstatt unsere Stärken und ihre Auswirkungen ausführlich zu hinterfragen. Deshalb bezeichne ich derart gewachsene Schwächen vorzugsweise als „Schattenseiten“ von Stärken, denn Schwäche schwächt und Schatten existiert nur dort, wo es Licht gibt. Die Schattenseiten sind also ein Beiwerk unserer Stärken. Es ist wichtig, dass wir uns der Schattenseiten unserer Stärken bewusst werden, damit unsere Stärken unser volles Potential entfalten und wir fortan in deren energetisierender Fülle denken. Doch erkunden wir zuerst, wie es überhaupt zu den Schattenseiten kommen kann.

Allgemein und wertfrei definiert Duden eine Stärke erst einmal als „Vorhandensein besonderer Fähigkeiten, besonderer Begabung [auf einem bestimmten Gebiet], durch die jemand eine außergewöhnliche, hohe Leistung erbringt.“ „Leistung“ ist dabei etwas „Geleistetes“ bzw. „eine unternommene Anstrengung und das erzielte Ergebnis“ (ebenfalls Duden). Soweit, so gut, doch noch nicht so hilfreich für unsere weiteren Überlegungen. Denn zur Bewertung einer Fähigkeit müssen weitere Kriterien herangezogen werden, die maßgeblich sind, ob diese Fähigkeit „außergewöhnlich“ oder „besonders“ ich und die ich hier ergänzen möchte:

  • Es bedarf einer Situation und einer Handlung, in der diese Fähigkeit bzw. Leistung im Außen (für andere) sichtbar werden kann.
  • Es muss Vergleichbarkeit hergestellt werden, um die Leistung als „außergewöhnlich“ (also nicht der „Norm“ entsprechend) bewerten zu können.
  • Die zugrundeliegende „Norm“ sowie ihre positiven und negativen Abweichungen müssen zudem definiert sein.
  • Es muss sowohl individuelle Kenntnis als auch ein gemeinsames Verständnis über die Art, den Inhalt und Umfang sowohl der Norm als auch der Fähigkeit bestehen.

Das klingt alles sehr abstrakt, deshalb lassen Sie es mich mit Beispielen untermauern. Dabei überspitzte ich die Darstellung bewusst, um Ihnen das Dilemma zu verdeutlichen, indem wir uns manchmal in unserer Selbstkritik oder durch unsere eingefahrene Sichtweise befinden.

Eine Fähigkeit ist, was Sie daraus machen

Nimmt man Duden wörtlich, so ist erst einmal jede Leistung und damit jede unternommene Anstrengung und das erzielte Ergebnis eine besondere Fähigkeit, wenn sie  jenseits von gewöhnlich, dem Durchschnitt oder der Norm ist. Dies schließt alle Abweichungen, positiv wie negativ, mit ein. Spinnt man diesen Gedanken wertfrei weiter, so besäße jemand, der beispielsweise überdurchschnittlich selbstständig ist, besondere Fähigkeiten. Selbiges würde auf den- bzw. diejenige zutreffen, der/die unterdurchschnittlich selbstständig ist. Welche Gedanken, Assoziationen ruft diese Überlegung in Ihnen hervor? Welche Fähigkeit würden Sie bevorzugt besitzen wollen und weshalb? Die überdurchschnittliche oder die unterdurchschnittliche Selbstständigkeit?

Ob eine Eigenschaft bzw. Fähigkeit hilfreich oder hinderlich ist, unterliegt erst einmal einer subjektiven Bewertung. Auf der körperlichen und geistigen Ebene herrscht über Stärken und Schwächen ein recht einheitliches Verständnis: Da gibt es beispielsweise LeistungsschwimmerInnen, KünstlerInnen und Mathegenies. Doch auf Ebene der Persönlichkeit sind wir bei der Bewertung von Fähigkeiten bzw. Eigenschaften ganz schnell im persönlichen und gesellschaftlichen Werte- und Normensystem unterwegs. Die „Wertebrille“, die wir tragen, ist meist so alt und angepasst, dass sie mit unserer Nase – bildlich gesprochen – verwachsen ist und durch die wir gerne nur schwarz-weiß – aber weniger die Nuancen – sehen, wenn wir uns mit unseren Bewertungs- und Denkmustern noch nie bewusst auseinandergesetzt haben. Diese Brille hat Werte und Normen der Generation und Region, in der wir aufgewachsen sind, gespeichert. Sie ist nach den Werten und Normen unserer Eltern und engsten Bezugspersonen programmiert, die uns in unserer Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter begleitet haben. Basierend auf dem verinnerlichten Bewertungssystem wird eine Fähigkeit bei positiver Besetzung als „Stärke“ und bei negativer Besetzung als „Schwäche“ etikettiert und ihr werden zusätzlich Adjektive zugesprochen. Im obigen Beispiel könnte eine unterdurchschnittliche Selbstständigkeit beispielsweise als „abhängig“ oder „hilflos“ und eine überdurchschnittliche Selbstständigkeit als „autonom“ oder „frei“ bezeichnet werden. Was ist nun die Stärke, was die Schwäche?

Die überdurchschnittliche Selbstständigkeit, die Teamfähigkeit und Integration in einer Gruppe erschwert?
Oder die unterdurchschnittliche Selbstständigkeit, die in einer Situation des auf-sich-allein-gestellt-sein völlige Ratlosigkeit auslöst?
Die überdurchschnittliche Selbstständigkeit, die auf sich selbst baut im Sinne von „ich mache es lieber alleine, da weiß ich, dass es gut wird“ und damit möglicherweise Isolation und mangelnde Anpassungsfähigkeit fördert?
Oder die unterdurchschnittliche Selbstständigkeit, die auf die Gruppe vertraut, „alles für diese tun würde“ und damit möglicherweise Selbstbewusstsein und Lösungsorientierung ungeschult bleiben?

Und wäre das nicht schon genug, so kommen auch noch unsere ganz persönlichen Bewertungen hinzu: Selbstständige sind stark, tough, egoistisch und gefühlskalt, Unselbstständige sind sozial, aufopfernd, unfähig und verletzlich. Ja was ist denn nun die Stärke und was die Schwäche?

Sie sehen, es ist vor allem eine Frage des individuellen Bewertungssystems und der daraus hervorgehenden Sichtweise auf die eigenen Fähigkeiten bzw. Eigenschaften und die unserer Mitmenschen. Das beinhaltet auch, dass ein Mitmensch die gleiche Eigenschaft bzw. Fähigkeit ganz anders bewerten und benennen würde. So könnte ein „unselbstständiger“ Mensch beispielsweise Fähigkeiten wie „Kompromissbereitschaft“, „Hilfsbereitschaft“ oder „Teamfähigkeit“ nennen, während der selbstständige Mensch beispielsweise „Lösungsorientierung“, „Eigeninitiative“ oder „Entscheidungsfreudigkeit“ angeben könnte. Wie würden sie sich bzw. ihre Fähigkeiten wohl gegenseitig beschreiben, wenn sie dabei ihre unterschiedlichen „Wertebrillen“ auf hätten?

Gar nicht so einfach, hier dann noch eine klare Grenze zwischen Stärken und Schwächen zu ziehen. Deshalb ist es manchmal hilfreich, sich im ersten Schritt einen Eindruck über die eigene „Grundausrichtung“ oder Persönlichkeitsstruktur zu verschaffen. Hier hat sich beispielsweise das Riemann-Thomann-Modell bewährt.

Fähigkeiten und ihre Namensvielfalt

Wenn Sie Synonyme für eine Fähigkeit oder Stärke nachschlagen, werden Sie eine Vielzahl an Bezeichnungen angezeigt bekommen. Dabei können die Bedeutungen der Bezeichnungen variieren. Nicht jeder Mensch ist sich dieser Nuancen durch und durch bewusst und wählt daher Worte und so auch die Bezeichnung der jeweiligen Stärke nicht immer mit der notwendigen Bedacht. Ich habe beobachtet, dass Worte und so auch Stärken gerne auch inflationär benutzt und nicht hinterfragt werden. Weiterhin geht der-/diejenige davon aus, dass sein/ihr Verständnis über die Bezeichnung allgemein geteilt wird.

Welche Bezeichnung gewählt wird, hängt nicht nur davon ab, ob wir uns der (korrekten) Bedeutung bewusst sind. Die Wahl der Bezeichnung wird unter anderem auch beeinflusst durch Herkunft, Generation, Erziehung, Bildung, Erfahrungen und vielem mehr. So liegt es nahe, dass Menschen im Gespräch nicht immer ein gemeinsames Verständnis über eine Stärke oder eine Schwäche teilen. Ein Beispiel soll Ihnen diese Problematik veranschaulichen. Stellen Sie sich vor, Sie seien Führungskraft: In einem traditionellen Bewerbungsgespräch für eine Stelle im Controlling antwortet der/die BewerberIn auf Ihre Frage nach seinen/ihren Stärken beispielsweise mit „Coolness“. Spüren Sie einmal in sich hinein, was diese Aussage mit Ihnen macht. Irritiert oder begeistert sie Sie? Welche Assoziationen weckt diese Bezeichnung in Ihnen? Wie würde es sich für Sie stattdessen anfühlen, wenn er/sie diese Stärke mit „Beherrschtheit“ benannt hätte? Oder welche Bezeichnung hätten sie alternativ gerne gehört?

Sie merken, ihr subjektives Bewertungssystem als Führungskraft läuft auf Hochtouren und öffnet unterschiedliche Schubladen für eine Eigenschaftsausprägung bzw. Stärke, die Sie „Coolness“, „Beherrschtheit“, „Gelassenheit“, „Leidenschaftslosigkeit“ oder wie auch immer nennen können. Setzen Sie hier nicht selbstverständlich voraus, dass der/die BewerberIn das gleiche Verständnis über diese Eigenschaftsausprägung mit Ihnen teilt oder tiefgreifende Kenntnis über die Bedeutung der gewählten Bezeichnung besitzt. Im Fall der Irritation: Bleiben Sie offen, fragen Sie nach und schaffen Sie ein gemeinsames Grundverständnis. Setzen Sie damit einen Impuls bei Ihrem Gegenüber und ermöglichen Sie sich beiden, sich kennenzulernen und ihren Blickwinkel zu erweitern.

Fähigkeiten und ihr situativer Bezug

Eine Fähigkeit bzw. Stärke ist situationsabhängig, das heißt in der einen Alltagssituation unterstützt sie Sie ganz wundervoll, in einer anderen Situation stehen Sie sich selbst aufgrund ihrer Stärke einfach nur im Weg. Dann wird aus der Stärke, die Sie in dem einen Moment noch „gefeiert“ haben ganz schnell eine Schwäche, die Selbstzweifel und Ärger über sich selbst im Gepäck hat. Das liegt häufig daran, dass wir „Schwächen“ nicht gründlich erkunden und sie somit auch nicht als Schattenseite unserer Stärken entlarven können. So können „Durchsetzungsvermögen“, „Wissensdurst“ oder „Genauigkeit“ im Beruf positiv besetzt sein, im Privatleben aber als „Dominanz“, „Neugierde“ oder „Kleinkariertheit“ schnell als unliebsame Eigenschaften eingestuft werden.

Fähigkeiten out of control

Wenn Sie sich ihrer Fähigkeiten bzw. Stärken nicht ganzheitlich bewusst sind, kann das fehlende Bewusstsein dazu führen, dass Sie ihre Stärken nicht angemessen kontrollieren können. Sie merken dies meist, wenn Sie ihre Stärke nur mit viel Energie in ihre Arbeit einbringen können und sich dadurch oft erschöpft fühlen. Oder diese Stärke nicht regulieren können, in ihr „verharren“ und so inflexibel werden und sie Ihnen letztendlich sogar überdrüssig wird.

DIE ÜBUNG

Werden Sie sich im ersten Schritt über den Zusammenhang zwischen den eigenen Stärken und Schwächen und damit der „Ganzheitlichkeit“ ihrer Stärken bewusst. 

Dazu erstellen Sie eine Tabelle mit zwei Spalten, in welcher Sie in der einen Spalte ihre Stärken und in der anderen Spalte ihre Schwächen eintragen. Hierbei fällt es meist leichter, mit Adjektiven zu arbeiten, bspw. ehrgeizig, hilfsbereit, lernbereit usw. Nun betrachten Sie sich Ihre Stärken und Schwächen in aller Ruhe. Welche Stärken und Schwächen sind sich in ihrer Essenz ähnlich? Fragen Sie sich, welche alternative Bezeichnungen oder Synonyme Sie einer Stärke geben könnten und vielleicht finden Sie sie notiert unter ihren „Schwächen“. Vielleicht sind sie besonders „präzise“ und gleichzeitig „pedantisch“? Oder „reflektiert“ und „kritisch“, „lernwillig“ und „neugierig“ usw.? Verbinden Sie die Stärken mit den zugehörigen Schwächen bzw. ihren „Schattenseiten“. Nun notieren Sie zu den Stärken und ihren Schattenseiten, in welchen Situationen diese auftreten. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen können Sie nun Strategien entwickeln, wie sie zukünftig gelassener, cooler, beherrschter, leidenschaftslos oder besonnener mit den Schattenseiten umgehen möchten.